Bilder, die nicht loslassen – Der diesjährige Literaturkurs der Stufe Q1 bringt in einer intensiven szenischen Interpretation die Erzählung „Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke auf die Bühne

„Die Bilder lassen mich nicht los“. – Noch Tage nach der szenischen Umsetzung der Erzählung „Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke durch den diesjährigen Literaturkurs der Stufe Q1 war dieser Satz in Gesprächen zu hören. Intensiv haben die Schülerinnen den Erzähltext auf die Bühne gebracht, der Einblick in das Psychogramm einer Familie war gleichermaßen berührend, verstörend und beklemmend.
Im Kern geht es in Vanderbekes Erzählung um eine Mutter und ihre beiden jugendlichen Kinder, die an einem Abend auf den Vater, den Ehemann und Hausherrn warten, für den ein Muschelessen vorbereitet wird, welches keiner außer dem Vater wirklich mag. In den Gesprächen der Familienmitglieder untereinander wird der Riss in der familiären Scheinidylle schnell deutlich und aus der mühsam ausbalancierten Kleinfamilie wird mehr und mehr ein Haufen zersprengter Einzelteile. In dieser unerwarteten Auszeit wird der Vater besichtigt, und es bleibt unter den ungerührten Augen der Erzählerin bzw. der Familienmitglieder nicht besonders viel übrig von diesem Mann und seiner fragwürdigen väterlichen Autorität.
Die elf Schülerinnen übernahmen die drei Rollen (Mutter, Tochter, Sohn) abwechselnd. In immer neuen Konstellationen nahmen sie das Publikum mit in die Untiefen ihrer Erlebnisse mit dem Vater. Dessen Herrschsucht, Anspruchshaltung, Ungnade und Gewalt wurden in einzelnen Szenen mit minimalistischer Bühnengestaltung fast nur durch den Sprechtext und das Spiel erfahrbar.
Die Schale mit Miesmuscheln als wichtiges Leitmotiv und eine der wenigen Requisiten kam in verschiedenen Szenen vor und wurde immer stärker mit der Offenlegung der Allmacht des Vaters, der zunehmenden Abgrenzung vom ihm und schließlich der Befreiung von seiner Gewalt aufgeladen. Zweite eindrucksvolle Requisite war der Zwischenvorhang aus Plastik. Halb durchsichtig bildete er den Beobachtungsposten des imaginierten Vaters, den man dahinter ahnen konnte. Am Ende rissen alle Spielenden den Vorhang mit Karacho herunter – Befreiungsschlag! Fast gleichzeitig verschwanden die inzwischen eklig gewordenen und ungeliebten Miesmuscheln laut vernehmlich im Müll.
So endet die Befreiung der Familie vom Vater ohne ihn. Gründe für sein Nichterscheinen, sein unübliches Zuspätkommen bleiben offen, eine konstruktive Aufarbeitung der Zerrüttung mit ihm ist unerwünscht. Nachdenklich bleiben die Zuschauerinnen und Zuschauer mit diesem Ende zurück.
Großer und anerkennender Applaus belohnte die Gruppe mit ihrer Spielleiterin Frau Haverkamp nach der gut einstündigen Aufführung am 18. Juni 2024. Wir danken euch allen sehr herzlich für diesen Theaterabend, dessen Bilder nicht so schnell loslassen.

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